Die Erinnerung an Silvio Meier in Berlin-Friedrichshain

veröffentlicht von Redaktion

Steigt man in Berlin am U-Bahnhof Samariterstraße aus der U5, trifft man am westlichen Ausgang auf eine Tafel mit der Aufschrift „Kein Vergeben! Kein Vergessen! Hier wurde Silvio Meier am 21. November 1992 von Faschisten ermordet“. Die Treppen hoch steht man auf der Frankfurter Allee, im durchsanierten Teil Friedrichshains – Anfang der 1990er ein Zentrum der Berliner Hausbesetzerbewegung. Ein paar Meter weiter zweigt die Mainzer Straße ab, im November 1990 Schauplatz eines mehrtägigen massiven Polizeieinsatzes, mit dem die dortigen Häuser gegen den Widerstand der Besetzer geräumt wurden. Heute ist davon nichts mehr zu erkennen. Auf der andere Seite der Frankfurter Allee ging es bis gestern in die Gabelsbergerstraße. Seit gestern ist sie nach Silvio Meier benannt. In einem offiziellen Akt erhielt die Straße ihren neuen Namen und die Schilder der Silvio-Meier-Straße wurden enthüllt. Er ist Teil und Ergebnis eines erinnerungspolitischen Aktivismus, der sei über 20 Jahren anhält.

In der Nacht zu jenem 21. November 1992 traf im U-Bahnhof Samariterstraße eine Gruppe aus der Besetzerszene, darunter der 27-jährige Silvio Meier, auf acht jugendliche Neonazis. Es kam zu einer Auseinandersetzung aufgrund eines Aufnähers mit der Aufschrift „Ich bin stolz, Deutscher zu sein“, damals eines der beliebten Markenzeichen der rechten Szene. Bei einem zweiten Zusammentreffen der Gruppen zogen einige der Neonazis Messer und stachen auf die Linken ein. Zwei von ihnen wurden schwer verletzt, Silvio Meier starb. Ein Jahr später wurde der Haupttäter wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Ein weiterer Angeklagter erhielt eine Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren, der dritte eine von acht Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

20 Jahre Silvio-Meier-Demo

Die Erinnerung an Silvio Meier wurde wesentlich getragen von einer linken Szene, die neben einer Mahnwache jedes Jahr im November die Silvio-Meier-Demonstration organisiert. RE:GUBEN sprach mit Thomas, einem linken Aktivisten, der mehrere Jahre im Vorbereitungsbündnis der Demonstration mitarbeitete. Er sagt, dass sie Teil seiner Politisierung war, und schätzt aufgrund seiner persönlichen Eindrücke die Entwicklung der Demonstration ein.

RE:GUBEN: Seit 1992 findet jedes Jahr eine Demonstration zum Todestag von Silvio Meier statt. Wie hat sie sich entwickelt?

Thomas: Die Silvio-Meier-Demonstration hat einige Etappen durchgemacht und ist im Laufe der Zeit und durch den Einsatz zahlreicher Menschen und Gruppen zur größten regelmäßig stattfindenden Demonstration in Berlin geworden.

Direkt nach dem Mord kam es spontan zu zahlreichen Aktionen und Demonstrationen, bei denen das Entsetzen über die Tat und die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit zu den Berichten der Presse und des Senats im Vordergrund standen. Dabei ging es auch darum, den Mythos der „Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Jugendbanden“ zu brechen. Gleichzeitig befand sich Berlin in einer Zeit des Wandels, es gab massenhaft Hausbesetzungen und die besetzten Häuser mussten sich gegen Faschisten zur Wehr setzen. Friedrichshain mit seiner linken Gegenkultur und den vielen linken Bewohner*Innen sowie mit der Nähe zu Lichtenberg war häufig Schauplatz von Angriffen durch Neonazis. Der Ausdruck der Demonstration in den Anfangsjahren war dementsprechend stark autonom geprägt und thematisierte rechte Strukturen in Friedrichshain und Umgebung.

In den 20 Jahren gab es natürlich Veränderungen…

In den Folgejahren formierte sich in Berlin eine breite antifaschistische Bewegung, die auf die Organisation von Jugendlichen setzte. Zu nennen ist hier insbesondere die Initiative der Antifaschistischen Aktion Berlin (aab). Dabei entstand ein breites Repertoir an Aktionmitteln- und formen in der Vorbereitung der Demonstration, das bis heute fortlebt. Darunter auch ein speziell an Jugendliche gerichtetes Heft, was an zahlreichen Schulen in Berlin verteilt wird. In der weiteren Entwicklung nahm die Silvio-Meier-Demonstration zunehmend Bezug auf die erstarkende Naziszene in Lichtenberg.

Welche Schwerpunkte hat die Demonstration darüber hinaus gesetzt?

Es gab immer wieder Bestrebungen, die Demonstration thematisch breiter anzulegen. So richtete sie sich im Jahr 2001 hauptsächlich gegen Kameraüberwachung und den durch den 11. September ausgelösten Sicherheitsdiskurs. Viele der damals Beteiligten haben jene Demonstration jedoch in nicht all zu guter Erinnerung. Mehrere Jahre in Folge richtete sich die Demonstration gegen Nazistrukturen rund um die Weitlingstraße in Berlin-Lichtenberg. Bis in das Jahr 2008 war das der Versuch, mit der Demonstration in Nazigegenden zu ziehen, die Nazis dort zu verunsichern und die Initiative von Jugendlichen vor Ort zu stärken. Das Naziproblem in Lichtenberg war damals generell ein wichtiges Tätigkeitsfeld der Berliner Antifaszene.

Später konnten weniger beachtete Themenfelder in den Vordergrund gerückt werden. An der Demonstration nahmen immer mehr Menschen teil. Eine wichtige Rolle spielten dabei die noch in Friedrichshain bestehenden Wohn- und Kulturprojekte. Nach der Demonstration zum 20. Jahrestag des Mordes mit mehr als 5.000 Teilnehmer*innen bleibt abzuwarten, in welche Richtung sie sich in Zukunft entwickelt.

„Her mit der Silvio-Meier-Straße“

Die Umbenennung der Gabelsbergerstraße in Silvio-Meier-Straße wurde angeregt und vorangebracht von der Initiative „Aktives Gedenken“. Auch sie gab RE:GUBEN ein Interview.

RE:GUBEN: Wie ist eure Initiative entstanden? Und in welchem Verhältnis steht sie zur Silvio-Meier-Demonstration?

Aktives Gedenken: Wir haben uns im Herbst 2010 nach einer Podiumsdiskussion gegründet, die im Kontext der 18. Silvio-Meier-Gedenkdemonstration stattfand. Unser Ziel war es, eine Straße nach Silvio Meier zu benennen. Wir wollten damit ein Stück Politik zurück ins Straßenbild bringen.

Für uns steht Silvio Meier für all diejenigen, die gerade Anfang der 1990er Jahre von Neonazis ermordet wurden. Hier sei nur daran erinnert, dass die Pogrome vom Rostock-Lichtenhagen gerade vorbei waren und am gleichen Wochenende die Morde in Mölln geschahen.

Zu uns gehören engagierte Antifaschisten mit verschiedenen Hintergründen, aber auch Vertreter aus Vereinen, Parteien, linken Gruppen und Einzelpersonen aus Friedrichshain. Unsere Initiative unterstützt auch Aktionen wie die Mahnwache, die jedes Jahr am 21. November an der Gedenktafel im U-Bahnhof Samariterstraße stattfindet, und die jährliche Gedenkdemonstration, die immer aktuelle Probleme mit Neonazismus und Rassismus thematisiert.

Die Forderung nach einer Straßenumbenennung stand bereits seit Jahren im Raum, sie wurde im Zusammenhang mit den Demonstrationen und Mahnwachen immer wieder geäußert. Aber von offizieller Seite, also vom Bezirk, gab es darauf nie eine Reaktion. Die meisten von uns hatten sich schon längere Zeit bei den Gedenkaktionen engagiert und wollten dann mit der Gründung der Initiative der Forderung Nachdruck verleihen.

Wie seid ihr vorgegangen und welche Reaktionen habt ihr darauf erfahren?

Wir haben einen offenen Brief geschrieben und damit bei Gewerbetreibenden, Einzelpersonen und Initiativen angefragt, ob sie unser Anliegen unterstützen. Die Rückendeckung, die wir dadurch bekommen haben, war groß. Wir organisierten Infotische im Bezirk, um die Bewohner aus dem Kiez anzusprechen. Danach führten wir diverse Gespräche mit potenziellen Partnern: BVG, Bezirksamt, Politiker, Journalisten, Kiezinitiativen etc. „Nebenbei“ haben wir die politischen Vertreter in den zugehörigen Bezirksausschüssen begleitet, nachdem es ein Interesse verschiedener Parteien der Bezirksverordnetenversammlung an einem würdigen Gedenken an Silvio Meier gab. Wir haben sozusagen Druck durch Öffentlichkeit aufgebaut.

Im Kiez ist das Gedenken an Silvio Meier seit vielen Jahren fest verankert, entsprechend wird auch die Forderung nach einer Straßenumbenennung breit unterstützt. Beispielsweise wurden wir bei unseren Infoständen häufig von Bürgerinnen und Bürgern gefragt, wie sie sich beteiligen können. Neben Einzelpersonen wird „Aktives Gedenken“ von vielen Friedrichshainer Initiativen, Gewerbetreibenden und Antifagruppen unterstützt.

Wir hatten vor, die Benennung einer Straße nach Silvio Meier bis zu seinem 20. Todestag zu erreichen. Nach langem Hin und Her sowie dem klaren Votum einer Bürgerveranstaltung im Frühling 2012 hat auch der Bezirk dieses Anliegen vorangetrieben. Durch die Klage eines Gewerbetreibenden wurde dies zwischenzeitlich leider aufgeschoben. Am 8. März 2013 fand dann die mündliche Verhandlung vor dem Berliner Verwaltungsgericht statt. Die eingereichte Klage wurde angesichts der erwarteten Erfolglosigkeit zurückgezogen. Künftig heißt nun die Gabelsbergerstraße Silvio-Meier-Straße.

Warum habt ihr euch für einen Straßennamen als Form des Gedenkens entschieden?

Wie schon erwähnt, unterstützen wir die Gedenkdemonstration und beteiligen uns aktiv an der Mahnwache zu seinem Todestag. Wir möchten betonen, dass die verschiedenen Gedenkformen für uns nicht gegeneinander stehen, sondern sich vielmehr ergänzen.

Mit der Forderung nach einer Straßenumbenennung wollten wir einen öffentlichen Ort durchsetzen, der die jüngste Geschichte des Bezirks sichtbar macht. Wir wollen erreichen, dass sich Menschen über den Todestag hinaus mit der Person Silvio Meier, damit mit linker – auch oppositioneller – Jugendkultur in der DDR, Neofaschismus in den 1990er Jahren, Antifaschismus und auch Hausbesetzungen beschäftigten. Wir finden die Zeit für eine „offizielle“ Würdigung Silvio Meiers durch den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ist reif. Zudem ist Gewalt von Neonazis im Stadtteil leider nicht Geschichte, sondern immer noch aktuell.

Linke Erinnerungspolitik

Die Auseinandersetzungen um die Silvio-Meier-Demonstration, der Prozess der Straßenumbenennung und die Sichtweisen der verschiedenen Akteure können an dieser Stelle aufgrund des begrenzten Textumfangs nicht wiedergegeben werden. Fest steht allerdings, dass es kein vergleichbares Beispiel des Gedenkens für ein Opfer rechter Gewalt gibt. Die wesentliche Voraussetzung dafür war sicher, dass Silvio Meier selbst Teil einer in Berlin relativ großen Szene war, die dieses Gedenken trägt. Hinzu kommt, dass es im „Szenebezirk“ Friedrichshain mit seiner Alternativ- und Projektkultur immer auch eine Öffentlichkeit gab, die das Anliegen positiv aufgenommen hat.

Silvio Meier wurde Identifikationsfigur – besonders in den ersten Jahren nach der Tat waren die Umstände, unter denen er starb, vielen nahe. Und er wurde zu einem Symbol, einerseits für die Zeit Anfang der 1990er, andererseits für linke Erinnerungspolitik. Das Gedenken an Silvio Meier wurde immer wieder mit aktuellen politischen Themen verbunden und damit wiederum aktualisiert. Insofern ist es ein Beispiel für aktives Gedenken, das die Erinnerung an den Menschen wachhält und sie als Anlass nimmt, sich mit dem Jetzt auseinanderzusetzen.

 

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