Joachim
Dönitz

Richter a.D.

Joachim Dönitz

Richter a.D.

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Wie haben Sie die Anwesenheit von Issaka K. und Kahled B. und die der Familienangehörigen von Farid Guendoul im Gericht wahrgenommen?

Sie können davon ausgehen, dass wir als Richter alles getan haben, was die Situation der Nebenkläger vereinfachte, auch was zum Beispiel eine logistische Unterstützung der beiden Brüder bei der Einreise anging. Die beiden Geschädigten haben mir unendlich leid getan. Ich habe es fast nicht ausgehalten, was die sich an Fragen von der Verteidigung gefallen lassen mussten und was ich als Rechtsstaatsbewusster noch durchgehen zu lassen hatte, ohne eingreifen zu können. Ich hätte nicht in der Rolle stecken mögen, die die beiden hatten. Sie hatten ja einen Rechtsbeistand. Das ist etwas, dass heute selbstverständlich ist: Dass Menschen in solchen Situationen einen Anwalt zur Seite bekommen. Da hat sich im Rechtssystem einiges verändert. Unsere erste Aufgabe ist, die persönliche Schuld eines Angeklagten festzustellen. Und das bleibt auch so. Aber die Persönlichkeit des Opfers ist mehr in den Mittelpunkt gerückt und das ist gut.

Was ist aus Ihrer Sicht die Bedeutung oder die Rolle, die so ein Gerichtsverfahren für die Opfer und für die Angeklagten haben kann?

Den Nebenkläger in so einem Verfahren aus der Rolle, dass er scheinbar auf der Anklagebank sitzt, heraus zu kriegen, das ist eine große Schwierigkeit. Für ihn ist das unter Umständen eine ganz große Sache. Ein Stück weit war es für Issaka K. natürlich so. So wie er befragt wurde, musste er sich persönlich angegriffen fühlen und wirklich selbst fragen, ob er Schuld am Tod seines Freundes hatte. Ein Anwalt, der ihn dann vertritt, muss dann mit allen Mitteln versuchen, ihn aus dieser moralischen Zwangslage herauszuholen. Das können wir Richter nicht immer leisten, da kommen wir an Grenzen. Das ist eine grundsätzliche Frage des Gerichtsverfahrens. Was wir in Gerichtsverfahren mehr brauchen, ist das Gespräch zwischen und mit den Beteiligten mit dem Ziel des Rechtsfriedens. Natürlich müssen Sanktionen gegenüber Tätern sein. Aber manchmal wäre ein Gespräch zwischen Täter und Opfer viel wichtiger. Das besser zu machen, ist eine zukünftige Aufgabe für die Justiz. In so einem Verfahren wie dem zu Guben ist das natürlich schwer. Wenn ich es mit Leuten wie Alexander Bode zu tun habe, da ist vermutlich ein Gespräch mit dem Opfer nicht möglich.

Für die beiden Brüder hatte dieses Verfahren natürlich eine hohe Bedeutung. Für sie war es ein Schock, dass die Täter keine Gefängnisstrafe bekommen haben vor dem Hintergrund, dass ihr Bruder gestorben ist. Das Urteil in dieser Form konnten sie nicht verstehen.

Das kann ich nachvollziehen. In ihrem Kulturkreis wäre das vielleicht auch anders ausgegangen. Der Rechtsstaat ist manchmal nicht in der Lage, Gerechtigkeit herzustellen; das sind manchmal zwei Dinge: Rechtsstaat und Gerechtigkeit.

Diese Diskrepanz ist ganz wesentlich für die Wahrnehmung von diesen Verfahren, die muss man aber auch aushalten können.

Das ist ein Stück des richterlichen Dilemmas allgemein: Jedes Verfahren hat einen Gewinner und einen Verlierer. Und was ist Gerechtigkeit? Wir können uns glücklich schätzen, davon bin ich überzeugt, dass wir in einem Rechtsstaat leben. Aber dieser produziert unter Umständen Ergebnisse, die menschlich nicht mehr zu verstehen sind und an denen man verzweifeln möchte.

Ich komme noch einmal zu dem Urteil zurück, das Sie mit einer sehr langen Erklärung verknüpft haben. Können Sie noch einmal nachvollziehen, wie Sie dazu gekommen sind?

Das ist eine Schwierigkeit, die mir nicht zum ersten Mal da begegnet ist. An sich heißt es unter Richtern und Juristen: Der Richter spricht sein Urteil und sonst nichts. Dass er eine persönliche Erklärung nachschiebt, ist unüblich und strenge Juristen würden sagen, dass sich das auch nicht gehört. Nun ist es manchmal für den Richter schwer, mit dem Urteil den Parteien gerecht geworden zu sein. Er hat möglicherweise das Gefühl, dass das, was er gesagt hat, zwar absolut dem entspricht, was in den Paragraphen steht, aber dass es trotzdem noch etwas gibt, was er dem einen oder anderen Prozessbeteiligten mit auf dem Weg geben möchte. Entweder einem Angeklagten, der Dank glücklicher Umstände viel zu gut davon gekommen ist. Oder einem Nebenkläger, der nicht versteht, warum ein so mildes Urteil oder ein Freispruch notwendig war. Vor diesem Hintergrund konnte ich einer persönlichen Erklärung in diesem Fall nicht widerstehen. In ihr habe ich zum Ausdruck gebracht, was ich in dem Urteil nicht zum Ausdruck bringen konnte. Sozusagen um zu erklären, warum ich als Richter so geurteilt habe. Allerdings habe ich diese persönliche Erklärung nicht mehr konkret vor Augen.

Sowohl die Verteidigung als auch die Nebenklage sind in Revision gegangen. Der Bundesgerichtshof hat dann entschieden, dass es keine fahrlässige Tötung war, sondern versuchte Körperverletzung mit Todesfolge. Er hat auch gesagt, dass das Strafmaß damit höher wäre, dieses aufgrund der vergangenen Zeit aber belassen. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Das ist eine ganz schwierige Rechtsfrage, die ich im Einzelnen jetzt nicht juristisch erläutern möchte. Aber wir hatten die Situation, dass eine Gruppe von Jugendlichen mit bösen Parolen Ausländer jagt. Einer von ihnen stirbt jetzt nicht durch die Hand eines der Hinterherlaufenden, sondern durch eine Selbstverletzung. Was ist das eigentlich? Wir kennen Todschlag, Mord, fahrlässige Tötung. Fahrlässige Tötung heißt, ich muss eine Bedingung setzen, die für mich kalkulierbar zum Tode führt. Also wenn ich bei Rot über die Ampel fahre, dann muss ich wissen, dass da Querverkehr kommen und so ein Mensch sterben kann. Das ist ganz klar fahrlässige Tötung. Als Farid Guendoul durch die Scheibe ging, war keiner der Angeklagten in unmittelbarer räumlicher Nähe und hat das mitbekommen. Er ist einfach dort verblutet. Ist das fahrlässige Tötung? Oder ist es wie der BGH geurteilt hat, versuchte Körperverletzung mit Todesfolge? Das sind schwierige juristische Probleme, um so einer Tat beizukommen. Da ist unter Umständen die Krux, die wir Juristen im Rechtsstaat manchmal haben, dass wir Hilfskonstrukte machen müssen, um zu einem nach allgemeinverbindlichen Regeln gültigen Urteil kommen zu können.

Ganz allgemein gesprochen: Wir als Juristen dürfen nicht sagen, dass das, was einer gemacht hat, eine kriminelle Sache ist und er bestraft werden muss. Oder kurz gefasst: Das ist ein Schwein und er wird bestraft. Sondern wir müssen sagen: Dass der ein Schwein ist, steht in dem Gesetz unter Paragraph so und so. Dann fangen wir Juristen an, auszulegen: Können wir das darunter fassen oder nicht? Wir wussten in dem Guben-Verfahren, dass Farid Guendoul durch die Scheibe gegangen ist und daran anschließend verblutete. Wir wussten auch, dass das eine Folge der Hetzjagd war. Denn ohne Hetzjagd wäre er nicht gestorben. Aber wie packen wir das in die uns bekannten juristischen Formeln? Wir dürfen keine neu erfinden. Wir dürfen nicht sagen: Das steht bisher nicht im Gesetz, aber das ist hier so klar, dass der jetzt so bestraft werden muss. Wir dürfen nur nehmen, was da ist. Wenn nichts da ist, dann dürfen wir nicht verurteilen. Dann müssen wir sogar freisprechen.

Aber der BGH hat die Tat dann als versuchte Körperverletzung mit Todesfolge gewertet.

Das hätten wir genauso machen können, der BGH war in derselben schwierigen Situation wie wir: Für den Sachverhalt eine gesetzliche Grundlage zu finden, um zu verurteilen. Die Richter am BGH haben wahrscheinlich genauso dagesessen und getüftelt, wie sie das hinkriegen können und haben eine andere Lösung gefunden. Da der BGH das höhere Gericht ist, ist das nun das Richtigere. Es spielt rechtsstaatlich keine Rolle, ob meine Lösung oder deren richtiger ist.

Auch nicht persönlich?

Nein, ich kann damit sehr gut leben. Es ist nur, dass wir versuchten, eine Lösung zu finden. Es gibt Situationen, in denen wir Juristen wissen, dass die Tat schrecklich ist und verurteilt werden muss. Aber die vorhandenen Gesetze lassen es dann einfach nicht zu. Das, was der BGH gemacht hat, haben wir in der Beratung natürlich auch überlegt. Aber wir haben uns dann einfach nur für eine andere rechtliche Konstruktion entschieden.

Aber was war entscheidend für Ihre Wahl?

Das weiß ich nicht mehr. Das sind schwierige juristische Fragen; da müsste ich mir das Urteil angucken. Wir haben uns damit auseinandergesetzt, aber der BGH war klüger. Daran, dass der BGH den Schuldspruch belassen hat, sehen Sie, dass es wirklich nur eine andere Konstruktion ist. Es scheint so, als ob der BGH unser Urteil als zu milde empfunden hat, wenn er sagt, aufgrund des Zeitverlaufs könne er kein anderes Strafmaß aussprechen. Das kann sein, auch damit kann ich gut leben. Das sind Taten, die kann man so und so beurteilen, ein anderes Gericht hätte möglicherweise wieder härter oder milder geurteilt.

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