Christina
Clemm

Rechtsanwältin
Nebenklagevertreterin

Christina Clemm

Rechtsanwältin, Nebenklagevertreterin

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Hast du eine Erklärung für das große öffentliche Interesse an der Tat und dem Verfahren?

Ich glaube, dies lag zum Teil schon an der Tat an sich, ein über Stunden öffentlich wahrnehmbarer Mob, der nicht zu halten war und diese Jagd veranstaltete. Das war schon eine besondere Tat. Dann glaube ich auch, dass es eurer kontinuierlichen und umfangreichen Öffentlichkeitsarbeit zu verdanken war. Dadurch konnte das Medieninteresse immer wieder geweckt werden. Es war ja eines der ersten derart groß beobachteten Verfahren gegen Neonazis. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob es danach noch eins gab, das so medienwirksam war. Und schließlich denke ich, dass man einen Teil des öffentlichen Interesses dem persönlichen Einsatz eines Tagesspiegelredakteurs zu verdanken hat. Wie auch immer er es geschafft hat, dass er das Verfahren für den Tagesspiegel so lange beobachten durfte, das weiss ich nicht. Aber damit war eine überregionale Zeitung gewonnen und das hatte eine Bedeutung.

Was spielt Nebenklage für die Betroffenen für eine Rolle in einem derartigen Verfahren?

Ich glaube, in dem Verfahren war es in besonderem Maße so, dass es uns gelungen ist, den Betroffenen eine Stimme zu verleihen. Und das ist genau das, was Nebenklage tun soll: Eine eigene Stimme des Opfers einbringen, gegen eine Banalisierung der Tat, gegen eine Diskreditierung des Opfers vorgehen. Es kam in dem Verfahren für die Tatbeschreibung zum Beispiel überhaupt nicht auf die Person der Opfer an. Sie waren ja nicht individuell ausgesucht worden oder aufgrund irgendeiner persönlichen Begegnung, sondern allein deshalb, weil sie von den Tätern als Nichtdeutsche identifiziert worden waren. Es war den Tätern während der Tat vollkommen gleichgültig, welchen Aufenthaltsstatus sie hatten oder aus welchem Herkunftsland sie kamen. Dennoch hat die Verteidigung Anträge gestellt, die gerade diese Fragen aufklären wollten, immer mit der Unterstellung, sie hätten Asyl- und Sozialhilfemissbrauch betrieben. Schlicht und einfach nur um die Betroffenen zu diskreditieren. Es gehörte zu unseren Aufgaben, dies zu verhindern und wenn uns dies nicht gelang, es zu skandalisieren. Eine andere Aufgabe war, die einhellige Sichtweise zurechtzurücken, dass es eine jugendtypische Tat wäre, dass eine Gruppe von Jugendlichen nachts auf Ausländerjagd geht. Wobei man beinahe fast befürchten musste, dass es in Guben eine jugendtypische Tat sein könnte. Wir hatten den politischen Hintergrund einzubringen und zu thematisieren. Staatsanwaltschaft und Gericht hatten daran kein Interesse.

Mit meinem Mandanten war es eine sehr intensive Zusammenarbeit über diese anderthalb Jahre, die das Verfahren gedauert hat. Ich glaube, wir haben tatsächlich fast jede Woche gesprochen und ich erklärte ihm immer, was in dem Verfahren gerade stattfindet. Er selbst wollte nicht teilnehmen und war nur einige wenige Tage da. Wir haben dann zusammen am Ende ein Plädoyer gehalten, bei dem er selbst auch gesprochen hat. Das fand ich das Bewegendste an diesem ganzen Verfahren und es hat mich sehr gefreut, dass er es geschafft hat, vor diesen Angeklagten, in dieser feindseligen Stimmung zu sprechen. Ich glaube, das war sehr gut für ihn. Es gab auch andere sehr beeindruckende oder eindrückliche Szenen; besonders aber als die beiden überlebenden Geschädigten gehört wurden.

Es war so, dass mein Mandant keinen gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland hatte. Zu dem prägenden Gefühl in diesem gesamten Verfahren und in der Bearbeitung durch die öffentlichen Stellen gehörte, dass ich mich so fremdgeschämt habe für diese deutschen Behörden allesamt. Ich konnte es kaum wahrhaben, dass man individuell und von öffentlichen Stellen so respektlos mit Opfern von derartigen Straftaten umging. Es hat mich immer wieder fassungslos gemacht. Dazu gehörte eben auch, dass man Kahled B. keinen vernünftigen Aufenthaltsstatus gab. Wir hatten alles probiert und der normale Weg ging nicht. Da habe ich gedacht: "Okay, jetzt schreibe ich einfach mal Bettelbriefe an Politiker und weise darauf hin, dass es angemessen wäre, ihm ausnahmsweise einen Aufenthaltsstatus zu geben." Deutsche Behörden können das ja machen.

Ich schickte also Herrn Platzeck, der damals Oberbürgermeister von Potsdam war, wo mein Mandant lebte, einen Brief, dann dem brandenburgischen Innenminister Herrn Schönbohm sowie an Herrn Thierse. Dann bin ich in den Urlaub gefahren und als ich zurückkam, gab es die Schlagzeilen, dass Herr Schönbohm mir hatte schreiben lassen, dass er nicht verstünde, warum man meinem Mandanten einen Aufenthaltsstatus geben müsste. Denn mein Mandant könnte doch eigentlich froh sein, wenn er aus dem Land wieder ausreisen könnte, in dem ihm so etwas widerfahren ist. Das war schon unglaublich dreist. Wie dieses Schreiben an die Presse ging, weiß ich bis heute nicht - der offene Skandal führte aber dazu, dass mein Mandant zügig einen Aufenthaltsstatus bekam.

Herr Thierse hatte als Bundestagspräsident die Angehörigen einmal zu sich in den Bundestag eingeladen. Es gab dann mit der Familie und unsere Mandanten ein etwas gezwungenes, aber doch herzliches Zusammentreffen. Ich glaube, meinem Mandanten hat der respektvolle Umgang mit ihm sehr gefallen. Man unterhielt sich eine halbe Stunde. Als wir gingen und unsere Mäntel abholen wollten, kam eine Putzfrau, die die Familie erkannte. Sie kam auch aus Algerien und rief ganz laut und fing ein Jammern an, wie so eine Art Totenklage. Dies in diesem schicken, ein wenig sterilen Gebäude, in der Garderobe, ganz plötzlich diese unerwartete Begegnung. Alle weinten umarmten sich, weinten gemeinsam. Ich glaube, ich auch. Daran merkte man, wie wichtig das Verfahren war, welche Solidarität die Verwandten und Betroffenen erfahren konnten und wie wichtig das Geschehen auch für andere Menschen algerischer Herkunft war. Auch als wir in Kreuzberg in einem arabischen Restaurant essen waren, erkannte der Betreiber die Brüder. Sofort bekamen wir einen extra Raum und sofort wurde uns alles kostenlos aufgetischt. Und es ist sogar heute noch so, dass wenn ich an diesem Restaurant vorbei gehe, ich immer noch von ihnen herzlich begrüßt und eingeladen werde. So eine spontane Äußerung war eben in Berlin möglich. In Guben nicht.

Gerichtsverfahren sind ja eine Form der Aufarbeitung einer solchen Tat neben anderen, die möglich sind. Mein Eindruck ist aber, dass es die Entscheidende ist und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: So kann ich nicht von Mord sprechen, weil das Gericht festgestellt hat, dass es kein Mord sei, auch wenn ich das anders sehe. Zum Zweiten haben Gerichtsverfahren für die Betroffenen eine hohe Bedeutung, weil es offensichtlich das Medium oder der Ort ist, von dem sie sich eine Gerechtigkeit erwarten. Eine Hoffnung, die in der Regel immer enttäuscht wird. Aber auch die Verantwortungsträger in Guben haben darauf verwiesen, dass man warten müsse, wie das Urteil laute, und man davor die Tat nicht wirklich öffentlich verurteilen dürfte, denn man wisse ja noch gar nicht, ob man die Täter tatsächlich als rechts bezeichnen könne. Wie siehst du die Funktion eines Gerichtsverfahrens hinsichtlich eines Umgangs mit rechter Gewalt?

Zum einen finde ich es wichtig zu akzeptieren, dass die gerichtliche, insbesondere die strafgerichtliche Auseinandersetzung nur ein kleiner Teil der Aufarbeitung sein kann. Denn die Begrenzungen des Strafverfahrens sind groß, es gibt den Zweifelsgrundsatz, es geht nur um individuelle Tat- und Schuldfragen, wenig um gesellschaftliche Verantwortung. Dennoch ist für Opfer von Straftaten, gar nicht nur bei denen von rechter Gewalt, sondern insgesamt, tatsächlich das Gericht ein Ort der Hoffnung, um Gerechtigkeit zu erfahren. Um die Anerkennung des eigenen Leids und der Anerkennung, dass es sich um eine Straftat, nicht um einen Unfall handelte und jemand hierfür Verantwortung zu tragen hat. Diese Hoffnung wird eigentlich immer enttäuscht, was aber systemimmanent ist.

Es gibt keine Gerechtigkeit und kein Gericht geht davon aus. Im Strafverfahren geht es vielmehr um die Bestrafung eines bestimmten Angeklagten oder Beschuldigten. Dieser stellt das Zentrum des Strafverfahrens dar, nicht das Opfer, nicht die Verurteilung einer Tat.

Vor dem Hintergrund, dass aber andere Strukturen fehlen, wird ein Strafgerichtsverfahren wichtiger. Es hätte in Guben natürlich gesellschaftliche Konsequenzen geben können. Eine wäre zum Beispiel der angemessene Umgang mit den Opfern gewesen; ihnen sofort ehrenhalber einen deutschen Pass zu geben und zu sagen: "Wenn ihr das wollt, wir können gut verstehen, wenn ihr es nicht wollt, aber wenn ihr wollt, kriegt ihr den deutschen Pass oder eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Und natürlich bekommt ihr ein angemessenes Schmerzensgeld, das der deutsche Staat einfach bezahlt, und auch eine Rente, wenn ihr aufgrund der schweren, massiven Störungen nicht arbeiten könnt. Oder wir zahlen eine Ausbildung." Ein liberaler Rechtsstaat kann nicht verhindern, dass Straftaten begangen werden. Deshalb muss er immer das Leid der Opfer anerkennen und versuchen sich an Wiedergutmachung zu beteiligen. Man muss bei solchen Fällen klare Zeichen setzen. Und es wäre hier doch so einfach gewesen. Ich hätte mir gewünscht, dass Verantwortungsträger öffentlich ausgesprochen hätten: "Wenn ihr denkt, ihr könnt hier irgend jemanden verjagen, dann sagen wir dagegen: ‚Nein, das könnt ihr nicht.' Genau das Gegenteil bewirkt ihr damit. Diesen Menschen verleihen wir die deutsche Staatsangehörigkeit, zahlen Rente, Umschulung, Deutschkurse, was auch immer sie brauchen." Genau das wurde aber versäumt. Also wenn zum Beispiel Schönbohm es wagt, etwas derartiges zu sagen, dann spielt er den Rechten in die Hände.

Es wäre in Guben so einfach und wichtig gewesen, Rassismus und Rechtsextremismus in den Schulen sofort zu thematisieren. Und dann geht jede Schulklasse mal zum Gedenkstein. Was es bringt, weiß ich nicht. Aber man muss ein derartiges Ereignis öffentlich ganz anders thematisieren. Ich bin sehr dafür, dass sich Täter auch von solchen Taten rehabilitieren können. Es ist aber erforderlich, dass sie etwas zur Rehabilitation machen müssen. Dass es eben nicht geht, dass der damalige Haupttäter dann noch stellvertretender Vorsitzender des NPD-Kreisverbandes wird und zu einer Wahl antritt.

Ein Gerichtsverfahren ist deshalb umso wichtiger. Vor allem da es für Geschädigte sehr viel darum geht, dass sie gehört werden. Und zwar nicht nur von den Linken oder den Üblichen, die sie sowieso anhören, sondern von einer bürgerlich akzeptierten Autorität. Auch von der müssen die Betroffenen respektvoll behandelt werden. Individuell ist das Strafverfahren häufig ein wichtiger Schritt zur Aufarbeitung der Tat. Schließlich geht es für Opfer häufig um die Auseinandersetzung mit den Tätern. Das heißt nicht nur, sie zu sehen, sondern auch, sie in einer Position zu sehen, in der sie Respekt vor dem Gericht haben und in der sie respektvoll mit ihnen umgehen. Auch das ist in dem Guben-Verfahren ja nicht gelungen. Die Angeklagten haben im Gerichtssaal rumgefeixt. Das war für unsere Mandanten nicht gut, nein, beängstigend, schockierend. Sein generelles Gefühl der Unsicherheit verstärkte sich dadurch.

Es ist auch Teil der Aufgabe der Nebenklagevertretung, den Mandanten ein Urteil nahe zu bringen und zu erklären, dass ein Strafgerichtsurteil nie eine Genugtuung sein kann. Ich erkläre meinen Mandanten immer, dass sie keine hohen Strafen erhoffen dürfen, sondern dass es darum geht, dass irgendetwas verurteilt wird, dass es eine öffentliche Missbilligung gibt. Das kann ein Gericht natürlich. Und ich glaube nicht, dass man das an der Höhe der Strafe festmachen muss. Man muss klare Worte finden. Und das hat dieses Gericht in Cottbus eben leider auch versäumt; einfach mal deutlich zu sagen: So geht es nicht. Wie ihr euch hier aufführt ist etwas, das wir als diese Gesellschaft nicht akzeptieren können. Darin könnte ein Gericht schon eine Funktion haben. Weniger die, mit höheren Strafen zu verurteilen. Ich glaube, darum geht es nicht.